Nach Hause kommen

Jeder Umzug in eine neue Wohnung fühlt sich für mich seltsam an. Seltsam neu. Seltsam aufregend. Ja manchmal sogar seltsam unbehaglich. Steff und ich sind in unserem Leben schon oft umgezogen. Vom kleinen Dorf in die nächst größere Stadt. Immer weiter. Am Ende dann in die Großstadt – in die schönste Stadt der Welt.

Jedes mal hatten wir die alte Wohnung noch lange in Erinnerung. Bei unserem letzten Umzug hatte Steff sogar die ersten zwei Wochen richtig Probleme, mit der neuen Umgebung klar zu kommen. Obwohl die neue Wohnung und der Ort das Ende einer immer höher steigenden Lebensqualität zu sein schien, waren wir doch die Neuen. Jemand anderes hatte zuvor hier gewohnt und jetzt kamen wir und die Geister in den Wänden mussten wir erst einmal kennen lernen – oder auch umgekehrt.

Auf dem Weg zur Schlüsselübergabe

Heute machen wir uns nun auf zur Schlüsselübergabe. In den letzten Wochen waren wir schon ein paar mal am Grundstück gewesen. Jedes Mal tauchten wir ein, in eine besondere, ganz andere Welt. Doch jedes Mal waren wir auch nicht allein. Die vorherige Eigentümerin ist eine sehr sensible aber dennoch souveräne und vor allem direkte Person. Bei jedem unserer Treffen versuchten wir den richtigen Ton zu finden; sie mit keiner Frage zu belästigen. Doch immer wieder gab es Momente, in denen in ihren Antworten ein Hauch von Kritik und Ablehnung zu hören war.

Kurz bevor wir heute wieder auf den Privatweg in den Wald abbiegen, sieht Steff im Whats App Status der Vorbesitzerin ein aktuell aufgenommenes Bild vom Haus mit den Worten “Danke für die sehr schönen und lehrreichen Jahre.” Urplötzlich schießen uns die Tränen in die Augen. War das doch die emotionalste Zeile, die wir je von ihr vernommen haben. Dazu das Bild von dem in der Sonne leuchtenden Waldhaus. Wir fahren bereits durch den Wald und können nicht aufhören zu weinen. Als wir vor dem Grundstück aus dem Auto steigen, steht sie noch an der Stelle, an der sie kurz zuvor das Foto gemacht hat und wir gehen ihr mit Tränen in den Augen entgegen. Wir begrüßen und schauen uns an, und ich erkenne, dass auch sie gerade geweint haben muss. In diesem Moment sind wir auf eine seltsame Weise miteinander verbunden. Als würde das Haus uns gemeinsam bei den Händen halten und einen Schwur aussprechen …

27 Schlüssel und zwei Zahlen

In diesem Moment fährt der Makler auf den Hof und platzt mit seiner heiteren Art in die Runde. “Huch, was ist mit ihnen denn los?” Er sieht, dass alle noch feuchte Augen haben. Doch ab da ist der sentimentale Knoten geplatzt und wir beginnen mit der Übergabe. Wir gehen jeden Raum des Hauses ab. Doch an keiner Stelle gibt es etwas zu erklären. Auf eine besondere Art kennen wir das Haus schon in und auswending. Der größte Akt ist die Aushändigung der unzählig vielen Schlüssel. Die Vorbesitzerin erklärt mir ca. 27 Stück und ich weiß genau, dass ich keinen einzigen im Kopf behalten werde. Jedes Mal denke ich, ja … probier ich dann halt aus.

Dann kommt der offizielle Teil mit dem Übergabeprotokoll. Bei einem Grundstück dieser Größe, mit einem Haus, zwei Nebengebäuden und etlichen einzuhaltenden Regeln ein Dokument mit genau … einer Seite. Auf dem Blatt stehen drei Eingabefelder für Strom, Wasser und Abwasser. Strom und Wasser lesen wir in Windeseile ab. Beim Abwasser stellen wir alle – oh Wunder – fest, dass sich die biologische Kläranlage autak und selbst verwaltet und es natürlich gar keinen Zähler dafür gibt. Das wars dann.

Ich halte in meiner Hand ein Hausmeister-Bund voller Schlüssel, als der Makler Geschenke aus seinem Wagen holt. Für die Vorbesitzerin einen Sekt und Blumenstrauß. Für uns zum Sekt eine Gartenpflanze. Die Zeichen der Zukunft.

Es ist 12 Uhr und ich stoße noch ohne gefrühstückt zu haben an. Wir stehen noch eine Weile erzählend vor der Garage und ich hoffe auf eine flüssige Verabschiedung. Nichts ist schlimmer, als unangenehm immer wieder aufguckendes Gesuche nach dem letzen Wort. Doch irgendwie kriegen wir es hin und der Makler kündigt sich an, in circa einem Jahr zu schauen, was wir aus dem Ort gemacht haben. Die Vorbesitzerin wünscht uns alles erdenklich Gute und wir sagen ihr, dass sie uns jederzeit besuchen kann. Beide verlassen den Hof und unterhalten sich noch kurz außerhalb des Geländes.

Zuhause

Steff und ich schauen uns in die Augen und wir warten auf DEN Moment. Auf ein Gefühl. Irgend eine Veränderung in uns. Doch nichts passiert. Wir sind zum erstem Mal völlig allein hier. Wir gehen ins Haus und blicken auf den Kaminofen; die Küchenschränke; die Stehlampe, die mal vom Vater der Vorbesitzerin gebaut wurde … nichts davon fühlt sich neu oder fremd an. Ich denke, hier werden wir jetzt leben. 10 Jahre – 20 Jahre – 30 Jahre … keine Ahnung. Dabei kommt mir alles seltsam vertraut vor. Als hätte dieses Haus über 100 Jahre auf uns gewartet. Als wären alle Vorbesitzer eine Art Personal gewesen, das den heutigen Tag lange lange vorbereitet hat. Ich fasse die schrumpellige Tapete im Wohnzimmer an und denke “Guten Tach – wir sind jetzt da!”

Ich nenne dieses Bild “5 Gläser Sekt um 12 Uhr mittags”.